Conrad Schormann veröffentlichte:"Am
Brett hat Hans-Walter Schmitt, Elo 2071, selten für Aufsehen gesorgt. Und doch
ist er einer der besten Köpfe des deutschen Schachs, der beste womöglich. Ob
WM-Kampf, Großmeisterturnier oder Kindertraining: Was Schmitt organisiert, das
funktioniert, un"
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Neuer Beitrag auf Perlen vom Bodensee: die
Schachschule aus Überlingen
Am Brett hat Hans-Walter Schmitt, Elo 2071,
selten für Aufsehen gesorgt. Und doch ist er einer der besten Köpfe des
deutschen Schachs, der beste womöglich.
Ob WM-Kampf, Großmeisterturnier oder Kindertraining: Was
Schmitt organisiert, das funktioniert, und wen er fördert, der gewinnt. In fast
drei Dekaden als Schach-Macher lag Schmitt nur ein Mal daneben. Nicht in der
Sache, Schach960 ist das Schach der Zukunft, aber Schmitt war seiner Zeit
voraus, und er hatte den falschen Ansatz gewählt.
In erster Linie unter Amateuren wollte Schmitt vor 20
Jahren Schach960 groß machen, aber deren Begeisterung zu wecken, erwies sich als
zähe Angelegenheit. Es fehlten die dauerhaft 960 spielenden Zugpferde, denen das
Schachvolk nacheifert.
Heute gibt es diese Zugpferde. Das Spiel ist auf dem
Sprung, sich zu etablieren, und es zeigt sich, dass in erster Linie die
Spitzenprofis dem neuen Spiel zugetan sind. Das strahlt auf die Hobby-Ebene aus:
Zuerst müssen Carlsen&Co. regelmäßig 960 spielen, dann folgt ihnen der
gemeine Vereinsmeier. Andersherum geht es nicht.
Schmitt und sein
"Wenigzeitinhaber"
Anfang der 2000er-Jahre begann Schmitt, Schach960 zu
promoten. Zu dieser Zeit muss ihm jemand den Begriff "Wenigzeitinhaber"
eingeflüstert haben. Das Wort ist zwar gleichermaßen sperrig wie schwer
vermittelbar, Schmitt gefiel es trotzdem. Fortan konnte der geneigte
Schachfreund kaum eine Schachzeitschrift durchblättern oder eine Schachwebsite
aufrufen, ohne auf Schmitt und seinen allgegenwärtigen "Wenigzeitinhaber" zu
stoßen. Der diente dem Schachmacher aus Bad Soden als Narrativ, um wieder und
wieder zu erklären, warum Schach960 gerade für Amateure das perfekte Spiel
ist.
Nur wollten die das gar nicht hören. Während viele Profis
schon jetzt gerne auf Schach960 umsteigen würden, weckt das Spiel bei Amateuren
erst einmal Unbehagen. Der typische Vereinsspieler hat sich nämlich ein Schema
zurechtgelegt oder irgendein abseitiges Gambit studiert, dass er immer und immer
wieder spielt, bis sich der Deckel schließt. Bis dahin erfreut er sich daran, in
seinem Verein als Spezialist zu gelten.
Leser dieser Seite kennen zum Beispiel Schachfreund Thiebe vom Nachbarverein, der
seit Jahrzehnten seine Partien mit 1.d4, 2.e3 und 3.f4 eröffnet - sein
spezielles Schema, mit dem er stellvertretend für zehntausende Amateure steht,
die sich etwas Ähnliches zurechtgelegt haben. Und manchmal funktioniert es ja,
zum Beispiel, wenn Schachfreund Thiebe aus Engen auf Schachfreund Grensing aus Überlingen
trifft. Letzterer spielt nämlich gegen 1.d4 auch seit 30 Jahren das immer
gleiche Schema, und ihn interessiert nicht die Bohne, ob er damit Schachfreund
ThiebesStonewallim Anzug die ersehnte Idealaufstellung
erlaubt oder nicht.
Der Hobbyspieler und seine
Spezialeröffnung
Wer Großmeister Klaus Bischoff nach seinem
Einsatz als Analysehelfer bei der Deutschen Amateurmeisterschaft zuhört, versteht sofort, warum Schach960 nicht auf
Anhieb ankommt. Mit "semi-korrekten Gambits" und "selten gespielten Eröffnungen"
konfrontierten die Amateure den Großmeister, mit ihren Spezial-Eröffnungen eben.
Und die wollen sie sich nicht wegnehmen lassen.
Mit viel Zeit oder wenig Zeit hat das nichts zu tun,
sondern damit, dass der Mensch sich mit Neuem schwertut, auch wenn das Neue
objektiv mindestens so toll ist wie das Alte. Thiebe wie Grensing wie tausende
andere Amateure verwenden genau null Prozent ihrer Freizeit für das Studium von
Schach. Sie könnten genauso gut oder schlecht 960 spielen. Dann würden sie auch
merken, wie viel Freude das Spiel bereitet, aber ihnen fehlt eben der Anstoß,
sich einfach mal hinzusetzen und das neue Spiel auszuprobieren.
Schemen geben Sicherheit, mit Neuem tut sich der Mensch
schwer. Wer 960 spielt, muss raus aus der Komfortzone. Anstatt ein Schema
abzuspulen, gilt es vom ersten Zug an, über die Rochade nachzudenken, sich zu
orientieren und erst einmal in die Partie hineinzukommen. Frühzeitiger
Schiffbruch nicht ausgeschlossen.
Nihal Sarin und "das
Schach der Zukunft"
Profis der Spitzenklasse lieben das. "Ich spiele lieber
960 als klassisches Schach", sagt unter anderem der Top-Ten-Spieler Wesley
So. Juniorenweltmeister Parham Maghsoodloo würde gerne mehr
Schach960 spielen und erwartet, dass sich das automatisch ergeben wird. "Das
Schach der Zukunft" nennt der indische Wunderknabe Nihal Sarin
Chess960. Diese Aufzählung ließe sich leicht fortsetzen. Ein Spitzengroßmeister,
der Schach960 doof findet, hat sich noch nie offenbart.
Der gegenwärtige Stand der ausgeuferten Eröffnungstheorie
im klassischen Schach macht jeden Profi zum "Wenigzeitinhaber". Um stets perfekt
präpariert zu sein, müssten Schachprofis der heutigen Zeit eröffnungstheoretisch
mehr auf dem Radar haben, als sie in ihrer Vorbereitungszeit studieren können,
außerdem mehr, als ihr Gehirn fassen kann.
Profis sehnen sich danach, den monströsen Eröffnungszopf
einfach abzuschneiden, heute noch mehr als zu der Zeit, in der Hans-Walter
Schmitt begann, Schach960 zu promoten. Damals fingen Computerschach und das
damit verbundene Ausufern der Theorie gerade erst an. Heute ist dieser Komplex
kaum noch beherrschbar.
Caruana versus Kasparov im
Chess960
Wahrscheinlich nimmt in erster Linie deswegen das neue
Spiel Fahrt auf. Aktuell läuft die erste offizielle 960-Weltmeisterschaft der
Post-Schmitt-Ära. Demnächst werden sich in Saint Louis unter anderem Garry
Kasparov und Fabiano Caruana im 960 messen, 200.000 Dollar sind zu
verteilen.
960-Organisatoren und Spieler könnten nun ein Dankeschön
nach Bad Soden zu Schmitts Schachtigern schicken. Schmitt hat schon vor 20 Jahren
damit begonnen, dem Spiel eine vermarktbare Struktur zu geben. Die gibt es immer
noch, und alle Beteiligten könnten sich heute darauf berufen.
Das begann mit dem Namen. Unter "Fischer Random" war
Schach960 ursprünglich bekannt geworden, weil seinerzeit Bobby Fischer
vorgeschlagen hatte, die Aufstellung der Figuren nach einem verfeinerten
Zufallsprinzip zu regeln (der König muss zwischen den Türmen stehen, die Läufer
auf verschiedenfarbigen Feldern). Eine Umfrage ergab, dass "Fischer Random" kaum
ein weltweit geeigneter Name für das neue Spiel sein würde. "Chess960" trifft
viel eher den Kern der Sache. Sich stattdessen für alle Zeit auf den Namen eines
durchgeknallten Antisemiten festzulegen, wäre ein selbstgemachter Klotz am
Bein.
Neben dem Namen sind auch die Zuständigkeiten geklärt.
Die FIDE übernahm 2009 den Begriff "Chess 960" und das Regelwerk in ihre
Statuten, der "offizielle" Segen. Derweil hatte Schmitt schon einen
960-Weltverband gegründet, die WNCA ("World New Chess Association") und ein
Ratingsystem eingeführt.
Einheitlicher Name, eine
Domain, ein Weltverband, eine Weltrangliste: 2009 hatte Chess960 eine klare
Struktur. Jetzt nicht mehr.
Aber 2009 war auch das Jahr, in dem die Schachtiger in
Mainz mit Levon Aronian zum letzten Mal einen 960-Weltmeister kürten.
2010 fanden die "Chess Classic" in Mainz, der Rahmen des alljährlichen
960-Wettbewerbs aus Open und WM, zum letzten Mal statt. Der Name "Chess Classic"
lebt jetzt beim "Grenke Chess Classic" in Karlsruhe weiter. Schmitt ist dort
Berater, aber Schach 960 steht nicht auf der Agenda.
International schlief das organisierte Schach960 danach
ein, auf ihrer regionalen/nationalen Insel betrieben es die Schachtiger weiter.
Durch die Chess Classic in Mainz war ein übersichtlicher, aber bleibender Pool
von Spielern aufgebaut worden, die gerne und immer wieder Schach nach den neuen
Regeln spielen, zuletzt bei der Deutschen Meisterschaft 2019.
International nahm das Spiel 2018 wieder Fahrt auf.
Magnus Carlsen gewann ein 960-Match gegen Hikaru Nakamura mit
14:10, war damit inoffizieller Weltmeister. In Saint Louis spielten eine Reihe
Weltklassegroßmeister 960-Matches. Die Resonanz auf beide Veranstaltungen war so
gut, die Akteure so zufrieden, dass die Weltmeisterschaft nun in ein offizielles
Format gegossen worden ist und das Turnier in Saint Louis wiederholt
wird.
Beides spricht dafür, nun auch das Spiel Chess960 in eine
Struktur zu betten, die es international und einheitlich vermarktbar macht.
Leider passiert das so gar nicht. Statt "gens una sumus" kochen viele Leute ihr
eigenes Süppchen. Rex Sinqufield etwa, Gönner des Schachs in
Saint Louis und der USA generell, hat sich die Marke "chess960" gesichert, und
als guter Kapitalist, der er nun einmal ist, wird er damit nicht bezwecken, sie
der FIDE für künftige Weltmeisterschaften zum Nulltarif zu
überlassen.
Damit nicht jeder sein
eigenes Süppchen kocht: die FIDE, chess.com, Sinquefield und Schmitt an einen
Tisch
Die FIDE hat derweil der Plattform chess.com das Recht
gegeben, die erste offizielle chess960-Weltmeisterschaft auszurichten. Die läuft
allerdings unter dem Namen "Fischer Random", was damit zu tun haben mag, dass
die Marke "Chess960" jetzt Sinquefield gehört. Und so hat das neue Spiel nicht
einmal einen einheitlichen Namen, ein gewaltiger Rückschritt, hatte es doch
eingangs der 2000er einen solchen und obendrein einen eigenen
Weltverband.
Da kann Mister Sinquefield mit seiner Marke noch so große
Pläne schmieden, die Domain "chess960.com" gehört weiterhin Hans-Walter Schmitt.
Und der fördert Chess960 nur noch mit begrenztem Einsatz, beschränkt sich auf
Nationales und Regionales. Eigentlich wäre es geboten, dass sich Vertreter von
FIDE, chess.com sowie die Herren Sinquefield und Schmitt an einen Tisch setzen
und erst wieder aufstehen, wenn ein von allen getragener Plan und der
einheitliche Name für das neue Spiel beschlossen sind. Wer weiß, dafür würde
Schmitt vielleicht die Domain hergeben?
Keymer und Engel gegen die
Weltklasse - warum nicht im Chess960?
Um international ein deutsches Lebenszeichen auszusenden,
verfolgt Schmitt ja längst einen neuen Plan, wieder einen, der funktionieren
würde: ein Rundenturnier mit den weltbesten Jugendlichen, zum Beispiel dem oben
genannten Nihal Sarin, und den beiden besten deutschen Jugendlichen, Luis
Engel und Vincent Keymer, das ganze eingebettet in ein
Jugendschach-Festival.
Im immer jüngeren Schach dieser Tage sind Jungs wie Sarin
oder dessen Landsmann Praggnanandhaa längst globale Marken, deren
Entwicklung Schachfans weltweit gespannt verfolgen. Erstaunlich eigentlich, dass
vor Schmitt kein Veranstalter darauf gekommen ist, sie gemeinsam auf eine Bühne
zu setzen und aufeinander loszulassen.
Warum eigentlich nicht im Chess960? Vincent Keymer hat
darin gerade die Schweizer Meisterschaft gewonnen, Engel findet das Spiel als
Zuschauer "besonders spannend". Da wäre es doch an der Zeit, es selbst zu
probieren.
Allerdings ist offen, ob aus dem Weltklasse-Jugendturnier
2020 etwas wird. Von den beiden potenziellen deutschen Teilnehmern, heißt es,
sei bislang nur einer angetan von der Perspektive, sich einem Wettkampf mit
ebenso gierigen wie begnadeten Gleichaltrigen zu stellen. Der andere zögert
noch.
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