Conrad Schormann
veröffentlichte:"Altersrekorde beim Schach machen in erster Linie in Verbindung
mit Wunderkindern Schlagzeilen. Derzeit redet alle Welt vom Inder Praggnanadhaa,
der gerade seine dritte GM-Norm erkämpft hat und als Zwölfjähriger bald der
zweitjüngste Großmeister jemals sei"
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Schachlektionen
Altersrekorde
beim Schach machen in erster Linie in Verbindung mit Wunderkindern Schlagzeilen.
Derzeit redet alle Welt vom Inder Praggnanadhaa, der gerade seine
dritte GM-Norm erkämpft hat und als Zwölfjähriger bald der zweitjüngste Großmeister jemals sein
wird (nach Sergej Karjakin, der seinerzeit noch ein bisschen jünger
war). 1,3 Milliarden Inder hoffen, dass "Pragg" dereinst in die Fußstapfen von
Ex-Weltmeister und Volksheld Visvanathan Anand treten wird.
In
Deutschland steht Vincent Keymer im Fokus einer breiteren
Öffentlichkeit, seitdem er zu Ostern in Karlsruhe vor reihenweise Großmeistern
eines der bestbesetzten offenen Turniere überhaupt
gewann, das Grenke Open. Keymer (13) ist noch eine Norm und eine
Handvoll Elo vom Großmeistertitel entfernt, Formsache.
Weil
er nicht ausschließlich auf Schach gedrillt wird wie manches asiatische oder
osteuropäische Wunderkind, hoffen wir, dass mit Keymer nach 30-jähriger Flaute
wieder ein deutscher Weltklassespieler heranwächst. Noch hinkt er zwar den
Allerbesten seiner Altersklasse nominell ein wenig hinterher, aber eine anfangs
flachere Elokurve mag sich trotzdem in höchste Höhen schrauben.
Der
deutsche Magnus
Schachkenner
flüstern derweil, dass Schachdeutschland mittelfristig sogar einen Magnus haben
könnte. Magnus Ermitsch aus Berlin ist erst neun Jahre alt, aber mit
einer DWZ von knapp 1.800 schon besser als fast zwei Drittel der deutschen
Vereinsspieler. Für ernsthafte Prognosen ist es zu früh, aber seine Partien
zeigen bei aller Unreife ein erstaunliches Schachverständnis, das zu erlangen
vielen anderen binnen einer Lebensspanne nicht gelingt.
Es
ist halt heute viel leichter, im Schach schnell gut zu werden, als das noch vor
wenigen Jahrzehnten der Fall war. Taktiktrainer, Eröffnungstrainer,
Spielplattformen, Online-Coaching und Datenbanken erlauben eine Druckbetankung
des Gehirns mit Mustern, Motiven, Meisterpartien und praktischer Erfahrung, von
der die alten Meister des 19. und 20. Jahrhunderts nur träumen konnten. Sie
mussten sich durch kiloweise Papier wühlen, und Training gab es nicht jederzeit
per Skype, sondern nur, wenn Trainer und Schüler in einem Raum waren. Dazu kommt
noch die Qualität heutiger Schachliteratur. Nie waren Schachbücher besser.
Rekord:
Großmeistertitel mit 88
Die
alten Meister des 21. Jahrhunderts müssen nicht träumen. Auch sie können sich
die neuen Möglichkeiten zunutze machen. Schlagzeilen machen sie selten, aber es
ist so manchem Schachspieler in der zweiten Lebenshälfte noch einmal gelungen,
mehr als eine Schippe draufzulegen. Jakob Meister zum Beispiel, ein aus Russland stammender
Berliner, erkämpfte sich den ersehnten GM-Titel 2008 im Alter von 53 Jahren.
Rekordhalter in dieser Hinsicht ist der Italiener Enrico Paoli, der 1996 als 88-Jähriger Großmeister wurde.
Den Titel bekam er allerdings ehrenhalber vom Weltschachbund FIDE verliehen,
nachdem er als Spieler stets knapp daran vorbeigeschrammt war.
Natürlich
sind junge Leute im Vorteil. Zum einem, weil Wettkampfschach eine Menge Energie
frisst, und die ist mit zunehmendem Alter immer weniger abrufbar. Zum anderen,
weil irgendwann die Erfahrung des Älteren nicht mehr vollständig die höhere
Taktfrequenz jugendlicher grauer Zellen kompensieren kann. Dazu kommt, dass
Leute in der Mitte des Lebens in der Regel weniger Zeit haben, die sie ins
Schachstudium investieren könnten. Die Familie geht vor, der Beruf auch. Aber
wer die Sache mit Disziplin und Ehrgeiz angeht, der kann trotzdem auch als alter
Sack mit limitierter Freizeit noch etwas reißen.
Andrzej
Krzywda (38) aus Polen machte neulich Schlagzeilen, weil er in dieser
Hinsicht als Vorbild taugt. Die 2.100 Elo hatte er schon vor 20 Jahren erreicht,
und dann ereilte ihn genau das Schicksal, das er mit manch anderem aufstrebenden
Schächer teilt: Er gründete eine Familie, machte sich als IT-Experte
selbstständig, und der Elo stagnierte.
An
Ehrgeiz fehlte es ihm nie, aber an einem Plan und einem konkreten Ziel - bis vor
etwa einem Jahr. Anstatt wie bisher kleinmütig zu sagen "vielleicht schaffe ich
ja wenigstens irgendwann 2.200", heißt das Ziel ab sofort IM-Titel, und Andrzej richtete sein Leben und sein Training
systematisch darauf aus. Das bedeutete unter anderem, früh aufzustehen. Wenn
seine Frau und die beiden Kinder noch schlafen, quält er sich aus den Federn und
beginnt den Tag mit systematischem Schachtraining.
Außerdem
machte er sein Vorhaben öffentlich: "From 2.100 to IM" heißt Krzywdas Youtube-Kanal (der einer der besten der Welt wäre, würde er
dort mehr Inhalte einstellen). Sein Facebook- und Twitter-Profil tragen den gleichen Namen. Auf beiden
dokumentiert er Training sowie Erfolge am Brett, und eine wachsende Zahl von
Fans erfreut sich an der Reihe von instruktiven Schachmomenten, die Krzywda
beinahe täglich präsentiert.
Der
Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Das IM-Turnier "Kattowitzer Frühling
2018" begann Andrzej mit seinen gut 2.100 Elo als Außenseiter. Nominell war für
ihn als Elo-Schlechtesten die rote Laterne vorgesehen. Zehn Tage später staunte
die mit IM- und GM-Titeln dekorierte Konkurrenz: sieben Punkte aus neun Partien
und eine Elo-Leistung von knapp 2.600 sicherten ihm den Turniersieg, eine
IM-Norm und einen Sprung auf Elo 2.258.
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